Titel
Bevölkerung und Militär in Bamberg 1860-1923. Eine bayerische Stadt und der preußisch-deutsche Militarismus


Autor(en)
Mayershofer, Ingrid
Erschienen
Paderborn 2009: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
536 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Nemitz, Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaften, Philipps-Universität Marburg

Bei der hier zu besprechenden Studie handelt es sich um eine Tübinger Dissertation, die unter Betreuung von Anselm Doering-Manteuffel am Sonderforschungsbereich 437 „Kriegserfahrungen, Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ entstanden ist. Am Paradigma der nordbayerischen Garnisonsstadt Bamberg betrachtet die Studie anhand des Leitbegriffs der „Wehrhaftigkeit“ den Wandel gesellschaftlicher Einstellungen zum Militär und zu militärpolitischen Fragen in einem konkreten, räumlich definierten Untersuchungsgebiet. „Wehrhaftigkeit“ umfasst nach Mayershofer sowohl die staatliche Fähigkeit zur Abwehr äußerer und innerer Feinde (einschließlich der Definitionsmacht über das Feindbild) als auch die individuelle Berechtigung sowie die individuelle physische und mentale Bereitschaft zum Waffendienst.

Mit der Wahl Bambergs hat sich Mayershofer für eine Stadt entschieden, die unter ihrer Fragestellung aus mannigfaltigen Gründen interessant erscheint: Bamberg, das im Berichtszeitraum der Studie eine Einwohnerzahl zwischen 24.000 und 50.000 Personen überwiegend katholischer Konfession aufwies, beherbergte Truppengattungen und Einheiten unterschiedlichen binnenmilitärischen Gepräges. Während das traditionsreiche 5. bayerische Infanterieregiment, das seit 1855 in Bamberg lag, einen Verband darstellte, dessen Offiziere überwiegend dem Bürgertum entstammten, handelte es sich beim 1. Ulanen-Regiment, das (anstelle des 6. Chevaulegers-Regiments) seit 1872 seinen Standort in Bamberg hatte, um einen Truppenkörper, in dem der fränkische Adel die Mehrheit der Offiziersränge bekleidete. Dies ist insofern von Bedeutung, als dass insbesondere der protestantische Adel Frankens seit der Kollektiverfahrung der Mediatisierung ein distanziertes Verhältnis zum bayerischen Königshaus pflegte. Dies und die Tatsache, dass der preußische Kronprinz bzw. später sogar der Kaiser selbst seit 1870/71 als Regimentsinhaber fungierten, eröffneten nicht nur der Einheit eine spezifische Orientierung am Reich, sondern machten über das Regiment auch wiederum das Reich in Konkurrenz zur bayerischen Monarchie in der Stadt erfahrbar.

Im Untersuchungszeitraum von 1860 bis 1923 ereigneten sich drei Kriege Bayerns bzw. des Reiches gegen auswärtige Mächte, an denen die Bamberger Regimenter teilnahmen. Hinzu kommen die bürgerkriegsähnlichen Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg, deren jeweilige Rezeption im Wehrdiskurs, aber auch in der Erinnerungskultur der Stadt und der Regimenter ausgiebig beleuchtet wird. Dabei – nur am Rande sei es erwähnt – bezeichnet Mayershofer den Krieg von 1866 nicht als den „Deutschen“, sondern als den „preußisch-deutschen“ Krieg. Die Quellenbasis der Analyse bilden unter anderem die Regimentsgeschichten der in Bamberg stationierten Einheiten, aber auch einschlägige Selbstzeugnisse Militärangehöriger. Die ausgewertete Aktenüberlieferung umfasst nicht nur staatliches und kommunales Schriftgut, sondern auch genuin katholisch-kirchliches Material, wodurch die Mitwirkung der Kirche und nicht zuletzt ihrer Vereinskultur im Diskurs sichtbar werden. Zentrale Quellengrundlage der Studie ist aber zweifellos die Tagespresse, welche durch ihre Parteibindung die Standpunkte der wesentlichen politischen Lager, nämlich des liberalen Bürgertums und des in Bamberg dominierenden Zentrums (bzw. der Patriotenpartei), offenbart. Dabei ist sich Mayershofer sehr wohl bewusst, dass die teilweise radikal vorgetragene antiborussische, antimilitaristische und reichskritische Haltung der Zentrumspresse gleichsam eine katholische Maximalposition darstellte, die in ihrer zum Teil scharfen Zuspitzung nicht unbedingt dem Meinungsbild der katholischen Basis entsprach.

In scharfer Analyse arbeitet Mayershofer verschiedene Entwicklungsstufen des Wehrdiskurses heraus. Während vor 1866 die Liberalen ein Milizheer propagierten und damit indirekt die königliche Prärogative der militärischen Kommandogewalt in Frage stellten, beharrten die Konservativen aus genau diesem Grunde auf dem stehenden Heer. Nachdem infolge der Niederlage von 1866 und des Berliner Friedens das bayerische Heer 1868 nach preußischem Vorbild als echte Wehrpflichtarmee (ohne das bis dato in Bayern übliche Einsteherwesen) reformiert worden war, nahm auch die Patriotenpartei in ihrer Opposition gegen den „preußischen Militarismus“ den Milizgedanken auf. Schließlich entzog der Erfolg im Krieg gegen Frankreich allen Befürwortern des Milizsystems die argumentative Basis, zumal die liberale Presse bereits vor 1870 das Wehrpflichtheer als „Volksheer“ verkauft hatte.

Den schwierigen Anpassungsprozess, welchen die Katholiken und die Bayerische Patriotenpartei (respektive das Bayerische Zentrum) nach 1871 zu bestehen hatten, zeichnet Mayershofer in vielen Filiationen nach, wozu zum Beispiel auch die konfessionsspezifische Erinnerungskultur an den Krieg 1870/71 gehört, die sich dem auf das Reich bezogenen „Sedan-Tag“ verweigerte. Der dezidierte Antiborussismus der veröffentlichten katholischen Meinung schwand in den 1880er-Jahren in dem Maße, in dem mit Abflauen des Kulturkampfes (und vor dem Hintergrund des zeitgleich eher deplorablen Erscheinungsbildes der Wittelsbacher) das Haus Hohenzollern Akzeptanz gewann. Als Endpunkt der Entwicklung findet sich die Zentrumspartei am Vorabend des Weltkrieges im Lager der Befürworter imperialer Rüstungspolitik. Dies war eine bemerkenswerte Wende, nachdem sich das zentrumsnahe Bamberger Volksblatt noch in den 1890er-Jahren explizit gegen die Aufrüstungspolitik positioniert hatte (prägnant hierzu die beiden Zitate S. 269 im Vergleich).

Großen Raum nimmt die Entwicklung des militärorientierten Vereinswesens ein, darunter nicht zuletzt die zahlreichen und stark differenzierten Krieger- und Soldatenvereine. Hier zeigt sich unter anderem die wichtige Rolle, die aktiven und ehemaligen Offizieren der Bamberger Garnison speziell im späten Kaiserreich als Propagandisten imperialen Gedankenguts etwa im Flotten- und Kolonialverein zukam. Ähnliches gilt auch zum Beispiel für die vormilitärische Jugenderziehung in der Bamberger Ortsgruppe des Bayerischen Wehrkraftvereins, dessen Reichweite im katholisch strukturierten Milieu Bambergs freilich begrenzt blieb.

Das einschneidende Erlebnis des Ersten Weltkriegs offenbarte die Grenzen traditionell militärinhärenter Sinnstiftung und Heldenschöpfung, deren Motive, wie individuelle Tapferkeit und Männlichkeit, kaum mehr mit dem anonymisierten Sterben im Grabenkrieg zu vereinbaren waren. An der Heimatfront wiederum vermochte die gesamtgesellschaftliche Militarisierung, wofür Mayershofer den quellennahen Begriff der „Volksgemeinschaft“ verwendet, die zunehmende gesellschaftliche Desintegration nicht zu verhindern. Ob man in diesem Kontext den Begriff des „Volksgenossen“ (S. 403) verwenden sollte, der doch zu eindeutig nationalsozialistisch konnotiert scheint, sei dahingestellt. Eindrucksvoll zeigt sich aber am lokalen Beispiel, wie Autoritäten vor Ort, so etwa der Bamberger Oberbürgermeister Adolf Wächter, in ihrem Bestreben, die bürgerliche Wiedereingliederung der geordnet aus dem Feld heimkehrenden Bamberger Regimenter zu befördern, gleichsam in einer rhetorischen Urzeugung auch in der katholischen Provinz jene Phrase von der Unbesiegtheit im Felde in die Welt setzten, die in der Folge in der Dolchstoßlegende aufgehen sollte.

Vor dem Hintergrund der militärischen Machtlosigkeit der Regierung Hoffmann und dem Kampf gegen die Münchner Räterepublik erlebte nach dem Zusammenbruch der Monarchie das Milizwesen – bis zum Verbot durch die Siegermächte – in Form von Volkswehren und Freikorps seine Realisierung unter rechtskonservativen bis rechtsradikalen Vorzeichen. Neben der Analyse dieser Vorgänge beleuchtet das Buch die Anfänge der Gedenkkultur um die ehemaligen Bamberger Regimenter, deren Definitionsmacht der aufstrebende Nationalsozialismus für sich zu gewinnen suchte.

Das Buch ist eine vollständig überzeugende und nicht zuletzt auch in der sprachlichen Darstellung sehr gelungene Lokalanalyse der gesellschaftlichen Diffusion, Propagierung und Rezeption militärpolitischer Ideen. Die Studie weist dabei über den genuinen Wehrdiskurs hinaus und liefert einen allgemeinen Beitrag zur mentalen Integration Bayerns in das deutsche Reich preußischer Prägung. Wer wissen will, wie es sein kann, dass das Wort „Bismarck“ Ende 1866 im katholischen Bamberger Land noch als veritable Beleidigung galt (S. 59f.), aber nur zwei Generationen später am Vorabend des Kapp-Putsches das Bamberger Volksblatt die Übernahme politischer Führung durch preußische Militärs wie Paul von Hindenburg oder Paul von Lettow-Vorbeck als Wunschvorstellung äußern konnte, der lese Mayershofers Buch.

Aus der spezifisch bayerischen Sicht des Rezensenten sei zuallerletzt noch angemerkt, dass Mayershofer auch eine kleine Rezeptionsgeschichte jenes (alt)bayerischen Mythos geschrieben hat, wonach man 1705 bekanntlich lieber bayerisch sterben als kaiserlich verderben wollte. Empfahl die katholische Lokalpresse noch 1869, lieber den Tod als Bayern zu sterben denn preußisch (S. 149) zu verderben, so meinte der Zentrumsmann Ernst Lieber 1893 pikanterweise gar einen Kaiser in Berlin, als er nicht kaiserlich verderben wollte (S. 272). Die Liberalen hingegen bevorzugten schon 1870 den Tod als Deutsche, um nicht französisch zu verderben, während die Zentrumspresse erst im September 1918 statt englisch zu verderben lieber deutsch sterben wollte (S. 420).